Dienstag, 3. Juli 2018

Gegen den Ball spielen


Dieses große Fußballereignis bringt ein seltsames Phänomen mit sich. In geradezu irrationaler Geschwindigkeit eignet sich unser Gehirn völlig unnützes Wissen an. Wir kennen alle Namen des deutschen Kaders, der Betreuer, wahrscheinlich noch die Namen der Spielerfrauen, sind aber kaum in der Lage die Namen der aktuellen Kabinettsmitglieder aufzuzählen. Leider funktioniert dieses Phänomen nur im Fußballkontext und nicht beim Vokabellernen. 
Nach dem Scheitern der Nationalelf fallen uns besonders schnell die Namen der vermeintlichen Schuldigen ein. Schland ist raus. Und irgendjemand muss den schwarzen Peter haben. Von Löw bis Bierhoff sind alle Namen gefallen: Özil, Khedira oder Hummels, der den entscheidenden Kopfball nicht reingemacht hat. Inwieweit Horst Seehofers Rücktritt als Sportminister mit dem Ausscheiden der Nationalelf zusammenhängt, ist noch unklar. Ebenso wie die Politik ist der Fußball das Reich der großen Pauschalsätze. „Sich reinhängen“, „aus der Tiefe des Raumes gegen den Ball spielen“ und „Verantwortung übernehmen, alles geben“. Hat offenbar nicht funktioniert. Und ehrlich gesagt, ich bin ein wenig erleichtert. Noch so ein Spiel wie gegen Schweden hätte mich echt gefordert – nervlich und konditionell. Wir hatten in den vergangenen Jahren viel Spaß mit dieser Mannschaft, die 2010 erfrischend aufspielte und von der wir damals gar nicht so viel erwarteten. Wir haben großartige Spiele gesehen, gegen Portugal, gegen Argentinien, gegen Brasilien. Jetzt sind halt mal die anderen dran – die Kroaten, vielleicht die Engländer oder wie wäre es mal mit der Schweiz als Weltmeister? 
Freuen wir uns auf unterhaltsame, nicht minder nervenaufreibende Spiele. Darüber, dass erwachsene Männer sich mit vorgehaltener Hand Geheimnisse anvertrauen, eine Technik, an der ich bereits in der 3. Klasse während eines Mathetests gescheitert bin. Und über die Lieferanten des unnützen Wissens, das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Dieses besinnt sich wieder auf seine Kernkompetenz und nach monatelangen Wiederholungen von „Stachelschwein, Amsel und Gnu“ werden knallharte Fakten geliefert und ganz wichtige Fragen beantwortet: „ Wie viele Standards braucht man bis zum Tor?“, „Fallen Tore eher wenn sich der Torschütze vorher ans rechte Ohr gefasst hat?“ oder „Wann wird der Rundfunkbeitrag für den Videobeweis erhoben?“ Am besten gefällt mir das neue Dreigestirn des ZDF: Oliver Welke, Oliver Kahn und Holger Stanislawski – oder, wie Oliver Welke ihn zärtlich nennt, „der Stani“. Virtuos erklärt letzterer virtuell, warum jenes Tor fallen konnte und jenes nicht. Jede Mannschaftsbewegung vom Toilettengang bis zur Trinkpause über die Einwechslung wird analysiert und diskutiert. Wenn diese Technik nur ein paar Tage für die Koordination der Arbeiten am Flughafen BER genutzt würde, nächste Woche wäre Eröffnung.

Text: Judith Müller-Krohn
Illustration: Marc Ramage

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